Montag, 14. September 2009

Malen ist Malen


(c) Nolde Stiftung Seebüll

Kunstnachzeit: 21 Jahre, ein Monat, sechs Tage

Der Sommer, in dem ich meine Liebe zur Kunst entdeckte, war kein guter. Es regnete, und wenn es ausnahmsweise einmal trocken war, sorgte ein kalter Wind für Gänsehaut. Es war wenige Wochen bevor ich in die Schule kam, Ende Juli 1988. Meine Eltern, meine Schwester und ich waren für zwei Wochen in einem Ferienhäuschen an der nordfriesischen Küste. Wir saßen in Wolldecken eingewickelt wie Kohlrouladen am Strand und suchten Windschatten zwischen den Dünen. Unser Zuhause war ein kleines Reetdachhäuschen, eingerichtet wie eine Puppenstube mit antiken Möbeln, Holzsesseln im Biedermeierstil mit Tierköpfen an den Armlehnen. Überbleibsel einer fremden Welt vergangener Zeiten. Mit ein wenig Phantasie – und davon hatte ich damals eine Menge – stellte ich mir vor, wie vornehme Damen und stattliche Herren sich hier zum Tee trafen. Viel lieber wären meine Schwester und ich aber wie zuhause auf den Sofas herumgehopst oder hätten unter Sesseln Höhlen gebaut. Meine Eltern hatten ihre Mühe, uns bei Laune zu halten. Jeden Tag Seehundaufzuchtsstation ging ja auch nicht.


Eintrittskarte vom 1. August 1988


Tagebucheintrag meiner Mutter

Am 1. August regnete es mal wieder, und so packten meine Eltern meine Schwester und mich ins Auto, und es ging ab nach Seebüll an der dänischen Grenze. Fast 100 Kilometer trennten unser Feriendomizil von dem abgelegenen Ort, an dem der Maler Emil Nolde 1927 begann, ein Haus zu bauen.
„Die beiden größeren Dächer sind flach und sammeln das Regenwasser für den Hausgebrauch. Quellwasser ist hier im Grund, wo es ehemals Meer war, keines. Die Mauern sind Klinker, dunkel violettrot, die kleinen flachrunden Seitendächer mit Kupfer gedeckt, das später grün oxydiert“,
schreibt Nolde an seinen Freund Hans Fehr.


(c) Nolde Stiftung Seebüll

Noldes Haus ist ein dunkler Bauhausbau, der wie eine Burg aus der Umgebung herausragt. Rund um das Haus ist ein Garten, der von Bäumen vor dem rauen Wetter geschützt wird, Blumen soweit das Auge reicht. Dahlien, Rosen, Sonnenblumen, Margariten, Gerbera.
„Grüße will ich Dir senden von unserem jungen Garten mit seiner schwellenden Blumenfülle, so schön, wie niemals zuvor wir es hatten. Die Sonnenblumen steigen so hoch empor und ich mit rückwärts gebeugtem Nacken, stehe der Schönheit dankbar, staunend davor. Es waren hier eine Reihe schönster Tag, kaum fassbare Farben glühten, und der Resedaduft wird getragen bis ans Haus.“
Emil Nolde an Hans Fehr.

Meine Mutter, meine Schwester und ich in Noldes Garten

Und so stand auch ich mit meinen sechs Jahren staunend davor. Vor dem Garten, aber auch vor den großen Ölgemälden und den kleineren Aquarellen, vor dem Farbenrausch der Landschaften, der üppigen Blumen und Fabelwesen. Und vor Noldes Menschen. Menschen mit fliehendem Kinn, grünem Gesicht, hervorquellenden Augen. Alte aufgedunsene Männer, die junge hübsche Mädchen im Arm halten. Schön waren sie selten, aber faszinierend immer. Bilder, Kunst, die kannte ich bisher hauptsächlich vom Selbermalen. Nachmittagelang saßen meine Schwester und ich zuhause in unserem Kinderzimmer, zeichneten mit Buntstiften und Wachsmalkreiden und hörten dazu Hörspiel-Kassetten. Dass jemand das Malen zu seinem Beruf machte, das war mir neu. Ein schönes Leben, dachte ich, wenn auch wahrscheinlich ohne Kassetten.
Emil Nolde ist kein Künstler, der sein Schaffen intellektuell analysiert. Seine Philosophie ist einfach:
„Malen ist Malen“.
Was bei diesem Malen herausgekommen ist, schaut man sich am besten im Original an. Als Druck in Bildbänden und auf Postkarten verlieren die Bilder an Energie. Es sind die Farben, die Noldes Bilder so stark machen. Feuerrot, Blutrot, Rosenrot. Silberblau, Himmelblau,
Gewitterblau. Nolde kennt viele Farben, und er benutzt sie alle. Segelboote ziehen über violettem Meer ihre Kreise. Der Himmel blüht gelb und grün und orange.
„Farbe ist Kraft. Kraft ist Leben. Nur starke Harmonien sind gewichtig“,
schreibt Nolde. Und ein anderes Mal:
„Die Farben in mir jubeln und weinen... meine Farben. Ich kann nicht wissen, ob auch andere Menschen sie so oder anders empfinden, denn ein jeder ist ein anderer im Sehen, im Verstehen und im Empfinden und Nachempfinden“.
Ich habe mir oft gewünscht, noch einmal nach Seebüll zurückzukehren. Aber es war immer zu weit weg und ohne Auto sowieso fast unerreichbar. Wer in Berlin wohnt, muss aber gar nicht bis an die dänische Grenze reisen. Hier gibt es seit zwei Jahren am Gendarmenmarkt eine dauerhafte Dependance.
Ich wundere mich, denn unterschiedlicher könnten die beiden Orte der Seebüll-Stiftung kaum sein. Dort die Stille in der rauen nordfriesischen Abgeschiedenheit, hier die elegante Geschäftigkeit der Berliner Altstadt. Auf einen Versuch kommt es an. Was suche ich eigentlich? Einen Moment des Empfindens oder eher des Nachempfindens?
Noldes Berliner Domizil ist das ehemalige Bankhaus Ebeling in der Jägerstraße. Bis zum 17.01.2010 zeigt es die Ausstellung „Mit verschnürten Händen – ‚ungemalte Bilder’ von Emil Nolde“.


(c) Emil Nolde, Junge Tänzerinnen, 1945, Nolde Stiftung Seebüll

Als Nolde trotz seiner zweifelhaften Haltung zum Nationalsozialismus – 1933 tritt er sogar der NSDAP bei – zu den „entarteten Künstlern“ gezählt wird und ein Berufsverbot erhält, malt er heimlich weiter. Sein Haus in der kargen Landschaft um Seebüll ist ein Refugium vor der Welt. Hier entstehen die zahlreichen, kleinformatigen „ungemalten Bilder“. Viele von ihnen sind vorher noch nie gezeigt worden. Kleine kunterbunte Aquarelle führen in die mythische Welt des Malers. Sagengestalten verschmelzen mit der Landschaft, Liebende schmiegen sich aneinander, Tänzerinnen biegen sich. Dazwischen große Ölgemälde aus der Zeit vor dem Malverbot und solche, die er nach 45 als Vergrößerung der Kleinen schuf. Ein Raum ist Seebüll gewidmet.
Flachbildschirme bringen Nordfriesland an die Spree. Diashows zeigen das Haus von außen und von innen, ein weiterer Bildschirm lässt Schilf im Wind rauschen. Rundherum Zitate von Nolde über seine Farben, sein Malen und sein Haus.
Und da ist es wieder dieses Gefühl. Ich stehe wieder staunend davor und betrachte das dunkle Flachdachhaus, die Blumen und Noldes Farbenmeer.

(c) Emil Nolde, Großer Mohn (rot, rot, rot), 1945, Nolde Stiftung Seebüll

Freitag, 11. September 2009

Zeit als Kunst

Zeit – ungreifbar, unbeschreibbar. Sie ist kein Element, kein Gegenstand, nicht abbildbar. Und doch haben sich Künstler immer wieder mit der Darstellung der Zeit beschäftigt. Mal wurde der Zeitmesser selbst zum Kunstobjekt, mal wurde die Zeit in Kunstwerken dargestellt.
Bekannt für seine Abbildungen von Uhren ist der spanische Maler Salvador Dalí. In seinem berühmtesten Werk „Weiche Uhren“ stehen die schmelzenden Uhren für die Allgegenwart der Zeit und deren Herrschaft über die Menschheit. Sie repräsentieren ein metaphysisches Bild der Zeit, die sich selbst und alles andere verschlingt.


„Die Beständigkeit der Erinnerung“ (Salvador Dalí 1931. Museum of Modern Art, New York)


Das im Original nur 24×33 cm große Ölbild zeigt vier zerfließende Taschenuhren, die in der katalanischen Landschaft vor den schroffen Felsen des Cap de Creus arrangiert sind. Auf einer Uhr sitzt eine Fliege, die symbolisieren soll, wie die Zeit verfliegt. Eine andere wird von Ameisen zerfressen, sinnbildlich für die Vergänglichkeit und den Verfall. In der Mitte des Bildes zerrinnt eine Uhr auf einem im Profil dargestellten, abstrahierten Gesicht des Künstlers. Salvador Dalí hatte immer wieder Angst vor der Zeit. Er befürchtete, Erlebtes an sie zu verlieren und deshalb auch nichts mehr rückgängig machen zu können.


„Weiche Uhren“ (Salvador Dalí1954. Salvador Dalí Museum, St. Petersburg/ Florida)

Dalís Gemälde "weiche Uhren" aus dem Jahr 1954 war eine Reaktion auf Einsteins Erkenntnis, dass die Zeit relativ ist.


Zeitmesser als Kunst

Im einzigen privaten Uhrenmuseum Berlins wird die Zeit zum Kunstgegenstand erhoben. „Zeit ist ein Fenster zur Welt und eine jede Kultur durchblickte kaum ihr eigenes“, beschreibt das Museum sein Verständnis von Zeit. „Die meisten dieser Fenster sind zudem längst blind und verschlossen.“ Im Uhrenmuseum in Friedenau klären und öffnen sich die Fenster wieder – und zeigen Zeitwelten von Antike und Mittelalter, von Hofdamen und Angestellten, von Abend- und Morgenland. Fünf Generationen der Juweliersfamilie Lorenz haben Uhren aus 3000 Jahren gesammelt, die Einblick in längst vergangene Zeit-Welten schenken.



Das kleine, liebevoll gestaltete Privat-Museum befindet sich in einem mittelalterlich anmutenden Kellergewölbe unterhalb der Lorenz-Geschäftsräume. Zu sehen sind frühe Elementaruhren (Sonnen-, Sand- und Wasseruhren) aus vorchristlicher Zeit, erste mittelalterliche Räderuhren (Kirchen-, Rathaus- und Turmuhren), zahlreiche Taschenuhren der beginnenden Neuzeit sowie (als Elektrik-, Elektronik-, Quarz- und Funkuhren) Exemplare des 20. Jahrhunderts.

Im Museum fliegen


Gezwitscher im Gemälde


Die Künstler zeigen uns den Vogel. Schon auf dem Begleitheft zur laufenden Ausstellung Bilderträume. Die Sammlung Ulla und Heiner Pietzsch lugt eine graue Taube hinter einem großen Schlüsselloch hervor. Und auch in der Neuen Nationalgalerie versteckt sich das gefiederte Motiv in zahlreichen surrealistischen Gemälden: Bei Dalí (Der Traum kommt näher) picken gleich mehrere Vögel auf einer monumentalen Tischdecke. Bei Frida Kahlo ist es nur einer. Sie hat ihn dafür in einem Selbstbildnis auf ihrer Stirn platziert. Max Ernst schließlich war das Federvieh so wichtig, dass er es zum Titel ganzer Gemälde erhob: Wald und Vogel.



Max Ernst hatte einen Vogel René Magritte: Der Äquator (Detail), 1942


Der deutsche Künstler war dem Tier regelrecht verfallen. Mit 17 Jahren habe er bereits sein Vogel-Faible entdeckt, erklärt er in Autobiografischen Notizen. Nämlich als sein geliebter Papagei am selben Tag starb, an dem seine Schwester geboren wurde. Hysterisch und depressivsei er daraufhin gewesen. Kurzweilig habe ihn das Verhältnis von Mensch und Tier verstört. Auf lange Sicht aber würde sich jene Verwirrung immer wieder auf seine Leinwand schleichen. Ernst identifizierte sich mit dem Vogel. „Loplop, den Höchsten aller Vögel“ nannte er sein Alter Ego, das seine Malerei und Plastik häufig ziert. Zufällig erinnerte außerdem sein Äußeres an einen Adler, fanden seine Künstlerkollegen. Ihm wurde ein „scharfer Blick“ nachgesagt - und eine Nase, die einem Raubvogelschnabel glich.


Der Realität davonfliegen


Bilderträume legt, neben Joan Miró, den Fokus auf Max Ernst. Trotzdem erklärt sein Einzelschicksal nicht die kreativen Absichten anderer surrealistischer „Vogelbeobachter“. Wenn man aber die Gänge der Neuen Nationalgalerie entlang wandelt, fragt man sich danach. Halbe Skulpturen und grüne Monster lachen ihrem Betrachter dort mit schiefen Mündern entgegen, als wollten sie ihn rasch verschlingen. Entblößte Körper stehen verloren an dunklen Bahnhöfen. Meereslandschaften mischen sich mit Wüsten. Kindliche Formen mit überpräzisen. Bunt mit Grau. Vernunft mit Wahn. Traum mit Albtraum. Und während große Künstlernamen an einem vorbeifliegen - Jean Arp, Yves Tanguy, Dorothea Tanning, Léonor Fini - flattert auch immer wieder ein Vogel in dieses düstere, mysteriöse Wirrwarr. Warum?

Die Epoche des Surrealismus begann nach dem Ersten Weltkrieg und endete nach dem Zweiten. Sie war geprägt von dem Wunsch nach Freiheit, Flucht und Frieden. Nicht umsonst versuchten ihre Anhänger, das Bewusstsein auszuhebeln und die Wirklichkeit zu verlassen. Sie wollten in ihre Träume kehren, ihre Illusion zum Alltag machen. So begegneten sie der Kriegsrealität mit viel Fantasie - und Formen. Hätten die Surrealisten also ein besseres Sinnbild für ihr Innenleben finden können als den Vogel? Der die Welt nur aus der Luftperspektive wahrnimmt? Einer zerstörten Erde einfach den Rücken zukehrt, wenn sie ihm oder er ihr nicht gefällt?


Der Blick durchs Schlüsselloch


Auf den ersten Blick scheint Bilderträume vielleicht wenig mehr als die zusammen gewürfelte Sammlung eines kunstbegeisterten Ehepaars zu sein. Spätestens auf den zweiten beeindruckt die Werkschau, weil sie Antworten sucht, nie aber gibt. Sie stellt Fragen, verwundert, lässt Details offen. Wie bereits das Begleitheft. Erst wenn man die Broschüre öffnet, blickt man hinter das Schlüsselloch und auf das gesamte Gemälde René Magrittes. Und stellt fest: Neben die eine graue Taube hat er noch zwei weitere gemalt, umrahmt von schlichter Landschaft. Drei Friedensvögel. Sonst nichts.