Der Sommer, in dem ich meine Liebe zur Kunst entdeckte, war kein guter. Es regnete, und wenn es ausnahmsweise einmal trocken war, sorgte ein kalter Wind für Gänsehaut. Es war wenige Wochen bevor ich in die Schule kam, Ende Juli 1988. Meine Eltern, meine Schwester und ich waren für zwei Wochen in einem Ferienhäuschen an der nordfriesischen Küste. Wir saßen in Wolldecken eingewickelt wie Kohlrouladen am Strand und suchten Windschatten zwischen den Dünen. Unser Zuhause war ein kleines Reetdachhäuschen, eingerichtet wie eine Puppenstube mit antiken Möbeln, Holzsesseln im Biedermeierstil mit Tierköpfen an den Armlehnen. Überbleibsel einer fremden Welt vergangener Zeiten. Mit ein wenig Phantasie – und davon hatte ich damals eine Menge – stellte ich mir vor, wie vornehme Damen und stattliche Herren sich hier zum Tee trafen. Viel lieber wären meine Schwester und ich aber wie zuhause auf den Sofas herumgehopst oder hätten unter Sesseln Höhlen gebaut. Meine Eltern hatten ihre Mühe, uns bei Laune zu halten. Jeden Tag Seehundaufzuchtsstation ging ja auch nicht.
„Die beiden größeren Dächer sind flach und sammeln das Regenwasser für den Hausgebrauch. Quellwasser ist hier im Grund, wo es ehemals Meer war, keines. Die Mauern sind Klinker, dunkel violettrot, die kleinen flachrunden Seitendächer mit Kupfer gedeckt, das später grün oxydiert“,schreibt Nolde an seinen Freund Hans Fehr.
Noldes Haus ist ein dunkler Bauhausbau, der wie eine Burg aus der Umgebung herausragt. Rund um das Haus ist ein Garten, der von Bäumen vor dem rauen Wetter geschützt wird, Blumen soweit das Auge reicht. Dahlien, Rosen, Sonnenblumen, Margariten, Gerbera.
„Grüße will ich Dir senden von unserem jungen Garten mit seiner schwellenden Blumenfülle, so schön, wie niemals zuvor wir es hatten. Die Sonnenblumen steigen so hoch empor und ich mit rückwärts gebeugtem Nacken, stehe der Schönheit dankbar, staunend davor. Es waren hier eine Reihe schönster Tag, kaum fassbare Farben glühten, und der Resedaduft wird getragen bis ans Haus.“Emil Nolde an Hans Fehr.
Und so stand auch ich mit meinen sechs Jahren staunend davor. Vor dem Garten, aber auch vor den großen Ölgemälden und den kleineren Aquarellen, vor dem Farbenrausch der Landschaften, der üppigen Blumen und Fabelwesen. Und vor Noldes Menschen. Menschen mit fliehendem Kinn, grünem Gesicht, hervorquellenden Augen. Alte aufgedunsene Männer, die junge hübsche Mädchen im Arm halten. Schön waren sie selten, aber faszinierend immer. Bilder, Kunst, die kannte ich bisher hauptsächlich vom Selbermalen. Nachmittagelang saßen meine Schwester und ich zuhause in unserem Kinderzimmer, zeichneten mit Buntstiften und Wachsmalkreiden und hörten dazu Hörspiel-Kassetten. Dass jemand das Malen zu seinem Beruf machte, das war mir neu. Ein schönes Leben, dachte ich, wenn auch wahrscheinlich ohne Kassetten.
Emil Nolde ist kein Künstler, der sein Schaffen intellektuell analysiert. Seine Philosophie ist einfach:
„Malen ist Malen“.Was bei diesem Malen herausgekommen ist, schaut man sich am besten im Original an. Als Druck in Bildbänden und auf Postkarten verlieren die Bilder an Energie. Es sind die Farben, die Noldes Bilder so stark machen. Feuerrot, Blutrot, Rosenrot. Silberblau, Himmelblau, Gewitterblau. Nolde kennt viele Farben, und er benutzt sie alle. Segelboote ziehen über violettem Meer ihre Kreise. Der Himmel blüht gelb und grün und orange.
„Farbe ist Kraft. Kraft ist Leben. Nur starke Harmonien sind gewichtig“,schreibt Nolde. Und ein anderes Mal:
„Die Farben in mir jubeln und weinen... meine Farben. Ich kann nicht wissen, ob auch andere Menschen sie so oder anders empfinden, denn ein jeder ist ein anderer im Sehen, im Verstehen und im Empfinden und Nachempfinden“.
Ich wundere mich, denn unterschiedlicher könnten die beiden Orte der Seebüll-Stiftung kaum sein. Dort die Stille in der rauen nordfriesischen Abgeschiedenheit, hier die elegante Geschäftigkeit der Berliner Altstadt. Auf einen Versuch kommt es an. Was suche ich eigentlich? Einen Moment des Empfindens oder eher des Nachempfindens?
Noldes Berliner Domizil ist das ehemalige Bankhaus Ebeling in der Jägerstraße. Bis zum 17.01.2010 zeigt es die Ausstellung „Mit verschnürten Händen – ‚ungemalte Bilder’ von Emil Nolde“.
(c) Emil Nolde, Junge Tänzerinnen, 1945, Nolde Stiftung Seebüll
Als Nolde trotz seiner zweifelhaften Haltung zum Nationalsozialismus – 1933 tritt er sogar der NSDAP bei – zu den „entarteten Künstlern“ gezählt wird und ein Berufsverbot erhält, malt er heimlich weiter. Sein Haus in der kargen Landschaft um Seebüll ist ein Refugium vor der Welt. Hier entstehen die zahlreichen, kleinformatigen „ungemalten Bilder“. Viele von ihnen sind vorher noch nie gezeigt worden. Kleine kunterbunte Aquarelle führen in die mythische Welt des Malers. Sagengestalten verschmelzen mit der Landschaft, Liebende schmiegen sich aneinander, Tänzerinnen biegen sich. Dazwischen große Ölgemälde aus der Zeit vor dem Malverbot und solche, die er nach 45 als Vergrößerung der Kleinen schuf. Ein Raum ist Seebüll gewidmet. Flachbildschirme bringen Nordfriesland an die Spree. Diashows zeigen das Haus von außen und von innen, ein weiterer Bildschirm lässt Schilf im Wind rauschen. Rundherum Zitate von Nolde über seine Farben, sein Malen und sein Haus.
Und da ist es wieder dieses Gefühl. Ich stehe wieder staunend davor und betrachte das dunkle Flachdachhaus, die Blumen und Noldes Farbenmeer.